Ich träumte, ich hätte eine Geschichte geschrieben, die davon handelt, dass ich in Marbod Fritschs Atelier einbreche und ein Bild, das ich dort vorfinde, zerstöre. Es handelte sich um die komplexe Form eines sogenannten Klartraums, das heißt, ich wusste einerseits, dass ich träumte, plagte mich aber andererseits mit zwei daraus folgenden Möglichkeiten herum, nämlich entweder, es gelinge mir nicht, aus diesem Traum zu erwachen oder ich wäre bereits erwacht und erliege dem Irrtum, immer noch zu träumen. Da in meinem Traum keine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Möglichkeit fiel, blieb unklar, was wirklich geschah: Schrieb ich nun im Traum eine Geschichte, in der ich in Marbod Fritschs Atelier einbrach und das Bild zerstörte, oder träumte ich das Schreiben einer Geschichte dieses Inhalts. Dieser Unterschied mag auf den ersten Blick akademisch erscheinen, bei näherer Betrachtung allerdings ist zu erkennen, dass meine Haltung dem Bild gegenüber, je nach dem, für welchen Fall es zu einer Entscheidung gekommen wäre, zwei unterschiedliche Qualitäten angenommen hätte. Im einen Fall hätte ich das Bild eher schreibträumd, im anderen Fall eher traumschreibend zerstört. Es wäre, um diesen Unterschied zu verdeutlichen, als hätte ich im einen Fall gefühlt, einen Schmerz zu träumen, im anderen geträumt, einen Schmerz zu fühlen. Abgesehen vom Inhalt meiner Geschichte ist diese Unterscheidung das Wesentliche.
Ich traumschrieb oder schreibträumte weiter, dass ich Marbod Fritschs Bild nicht in böser Absicht zerstört hätte, sondern vielmehr, um hinter Marbod Fritschs Methode zu kommen. Zu diesem Zweck schien es nötig zu sein, eine vordere von einer hinteren Ebene zu trennen, was der Ansicht meiner erzählten Traumfigur (geträumten Erzählfigur) zufolge nur mit Hilfe eines Messers möglich war. Mein über den Akt des Schreibens vermitteltes Traumich stach also mit einem mittelgroßen Küchenmesser, (einem der asiatischen Art, also mit weißer Keramikklinge) in das Bild hinein, wodurch ein Schlitz entstand. (In diesem Moment nahm mein in die geträumte Geschichte hinein geschriebenes Alter Ego kurzfristig den Namen Luigi an, einen Namen, den ich, und an dieser Stelle versäumte ich eine gute Gelegenheit aufzuwachen, in Form des Plätschern eines Brunnens wahrnahm.) Luigi begann also die Figur, die ich, die er, die wir, che NOI als die vordergründige identifiziert hatten, auszuschneiden, eher auszusägen, um die hintergründige Figur bloßzulegen, heraus zu lösen, zu befreien von der Illusion ihrer tieferen Existenz. Wie es Träume aber so an sich haben, auch oder gerade solche, die die Erfahrung der Grenze hin zur Wirklichkeit als Stoff mit sich führen, die in diesen Stoff gewissermaßen eingewickelt sind, funktionierte mein Eingriff nur halb oder besser doppelt, das heißt, es trat ein Effekt ein, den die Vertreter der klassischen Logik fürchten, nämlich der des sogenannten Ausgeschlossenen Dritten, wonach etwas nicht sein und gleichzeitig nicht sein kann. In der von mir geträumten Geschichte, in der ich diese Traumsequenz schrieb, war beides möglich, besser, die Ebenen befanden sich in einem permanenten Übergang von einem in den anderen Zustand, nämlich des Durchstechens und Eindringens, des Auseinanderschneidens und Voneinanderablösens, des Aufdeckens der Illusion von Tiefe und des Beweises, dass es sich tatsächlich um Objekte in der Tiefe handelte. (Die ablösende Traumgestalt hieß im Unterschied zur stechenden Traumgestalt übrigens nicht Luigi, sondern Giorgio, ein Name, der sich mir akustisch in Form von auf dem Boden in Scherben zerspringenen Keramikvasen mitteilte.)
Wichtig ist es zu erwähnen, dass ich während der gesamten Traumsequenz keine Angst empfand, von irgendjemandem bei meiner Handlung ertappt zu werden, auch nicht, dass plötzlich Marbod Fritsch auftauchen könnte, und es zu einer peinlichen Konfrontation käme. Dennoch war ich mir einer Gefahr bewusst, die allerdings eher vom Bild ausging, das ich attackiert hatte oder das ich im Begriff war, auf die vorhin beschriebene zerstörerische Art zu analysieren. Überhaupt löste sich die Traumhandlung immer mehr ab vom Akt des Stechens, Schneidens und quasi Sezierens, hin zu einem Zwiegespräch zwischen mir (oder uns, NOI) und den auf dem Bild dargestellten Figuren, die nun mehr und mehr zum Abbild meines eigenen Ichs oder seiner verschiedenen Erscheinungsformen wurden, als hätte Marbod Fritsch versucht, mein Ich zu zerlegen, aufzulösen in seine Bestandteile und als wäre seine Darstellung so etwas wie die aus meiner im Bild gespiegelten und damit negativen Existenz gezogene Wurzel. Plötzlich erschien er mir so, als wäre ich gar nicht in das Atelier eingebrochen, sondern hätte es durch eine Tür betreten, die sich mit einer einzigen Bewegung sowohl öffnen als auch schließen lässt. Ich fühlte mich befreit von der Dichotomie des Entweder-Oder, des Wahren oder des Falschen, des Guten oder des Bösen, des Existenten oder des Nicht-Existenten. Ich war ein Wesen der Grenze, auf der noch nichts entschieden ist, ohne die es aber auch keine Unterscheidung in das eine oder das andere geben kann, auch nicht zwischen dem Bild und dem darauf Abgebildeten, oder zwischen mir und dem anderen, dem Innen und Außen und natürlich auch nicht zwischen Traum und Wirklichkeit.
Dieser letzte Gedanken war es schließlich, der mich aus dem Zustand dieses lang anhaltenden paradoxen Übergangs, in dem ich mich befand, befreite, obwohl ich nicht sagen kann, ob ich anschließend in die Welt eines anderen Traums entlassen wurde oder in die einer anderen Wirklichkeit. Faktum ist, was ich geträumt habe, habe ich geschrieben, was ich geschrieben habe, ist geschehen, was es bedeutet, weiß der Kuckuck. (Oder die Psychonanalytiker, vor allem die freudinanischen. Sie werden das Rätsel vielleicht lösen können. Oder sie werden mir auf die Schliche kommen, inwieweit ich die Form des Traums lediglich verwendet habe, um das zu verdeutlichen, was meiner Ansicht nach in dieser Serie von Bildern Marbod Fritschs passiert.)
Wolfgang Mörth