Der Grundsatz der Wörter und die Fäden des Wirklichen
Real ist, was zwischen den Dingen ist, nicht die Dinge selbst. Dieser Satz steht in Großbuchstaben auf einer im Raum ausgelegten Teppichbahn. Schwarz auf Weiß ist der Satz zu lesen. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand ist sein Anfang. Die Lettern des Wortes “REAL” sind gut erkennbar. Sie modellieren sich aus dem Grund. Der Teppich ist dort an der Wand montiert, er entrollt sich auf dem Boden, wird zum Läufer und zum Diener. Am anderen Ende schwingt er sich wieder nach oben, endet auf selber Höhe wie am Anfang. Auf seiner Strecke, die den ganzen Raum durchmisst, verändert er sein Dasein. Anfangs ist er Bild, dann Belag, zuletzt wieder Bild, je nachdem ob er betreten werden kann oder nicht.
Der Satz ist nicht einfach zu verstehen. Nicht nur, weil der Teppich, solange er Belag ist, zu nahe liegt, um die Buchstaben entziffern zu können. Der Satz ist auch nicht einfach zu verstehen, weil er eine ungewohnte Sicht auf die Dinge anbietet, ja geradezu behauptet. Wir neigen nämlich dazu, die Wirklichkeit nach ihrem Bestand zu beurteilen. Das heißt, wir sehen sie als Ansammlung der Dinge, die sind. Dafür gibt es ein seit Alters her eingeführtes Wort: das Seiende. Das Seiende ist nichts anderes als die Gesamtheit der Dinge und Phänomene, die wir in der Welt wahrnehmen. Was bedeutet aber der Satz, der auf dem Teppich steht, wenn er feststellt, dass das Reale nicht die Dinge sind, sondern, das was zwischen den Dingen ist? In der älteren Ontologie ist der Gegenbegriff des Seins, das jedem Seienden zukommt, das Nichts. Wenn folglich das, was zwischen dem Seienden ist, das Wirkliche ist, dann ist das Wirkliche das Nichts. Das aber ist Unfug. Der Satz soll in die Irre führen. Oder er bietet uns einen Weg in ein anderes Denken an, so ähnlich wie der Teppich sich von einem Bild zum Belag und zurück verwandelt.
Der Satz ist ein Zitat. Er stammt von Jean-Luc Godard, dem französischen Filmemacher der Moderne. Deshalb heißt die Ausstellung auch “Jean-Luc”. Sie ist übrigens die letzte einer Serie. Mir ist nicht bekannt, wie Godard diesen Satz gemeint hat, aber wenn man überlegt, wie das Wirkliche im Film erscheint, so stellen sich tatsächlich erste und ontologische Fragen. Die sichtbaren Dinge im Film sind nämlich keine Dinge im gewöhnlichen Sinn. Nun, aber was sind filmische Bilder, was sind Bilder überhaupt? Sind sie Seiendes oder sind sie es nicht? Die Antwort lautet wohl: sie stellen Seiendes nur dar. Aber was sind Darstellungen? Sind sie gar Nichts?
Godard gibt eine Antwort. Sie lässt sogar an Klarheit nichts zu wünschen übrig. “Real ist, was zwischen den Dingen ist”. Damit findet sich die Spur, die es zu verfolgen gilt. Sie findet sich in den Dingen, sondern in der Bruchlinie, im Dazwischen, in einem Zwischenzustand von Sein und Nichts. Im Film, so könnte man sagen, ist nur der Streifen real. Alles andere dient der Täuschung, die zugleich ein Verschwinden dessen bedeutet, was wir normalerweise unter Wirklichkeit verstehen. Der Film ist nichts anderes als eine Abfolge von Unterbrechungen, eine Wiederholung von Schnitten. Er ist nicht die Realität, sondern eben das verschwindende Dazwischen.
Marbod Fritsch hat Tapisserie studiert. Tatsächlich ist die Tapisserie eine Kunst, die einige Ähnlichkeiten mit dem Film besitzt. Diese Parallele setzt er klug um. Wie der Film so beruht die Teppichweberei auf einer Technologie der Verkettung. Fäden werden miteinander verknüpft wie Frames. Zudem arbeiten beide Techniken mit einer Wiederholung, und zwar einer Wiederholung, die sich selbst verbirgt. Es ist eine Wiederholung im Dienste der Täuschung und Illusion. Damit ist die Antwort gegeben. Das Reale ist weder die Darstellung noch das Dargestellte, es ist das Dazwischen, die Wiederkehr, die sich - um etwas anderes zeigen zu können - selbst unterschlägt.
Fritsch legt den Teppich im Raum aus. Die strenge Symmetrie ist wichtig. Der Teppich ist dabei wie ein Pier oder ein Pfad, der den Raum in zwei Hälften teilt. Er ist selbst ein Schnitt. Er ist die Bruchstelle und zugleich der Saum, an dem sich zwei Leeren treffen, die von ihm gespalten und zusammen gehalten werden. Wir sehen ein Ding, wenn man so will, das zwei Nichtdinge zusammenhält, ein Sein, das mit zwei Nichts vernäht ist. Aber nicht nur die Trennung zu den Seiten ist bedeutsam, auch die Raumkoordinaten. Der Teppich liegt am Boden, er berührt die unter ihm befindliche Fläche. Er breitet sich in der Waagrechte aus. In dieser Form ist er nützlich und kann betreten werden. An seinen Enden schwingt er sich zum Bild auf, erhebt sich schwungvoll in die Vertikale, wird zum Wandelement. Er wird damit unbetretbar, zweckfrei, zu Kunst und Plakat.
Aber es ergeben sich noch andere Lesarten, die uns in ein Dazwischen führen. Im Raum sehen wir ein Band, das sich wie ein riesenhaft vergrößerter Film aufrollt. Der Teppich ist in Schwarz-Weiß gehalten wie das Positiv und Negativ eines Filmes. Auf den Teppich sind Motive gedruckt, die sich wiederholen. Sie bilden den Grundsatz der Wörter, sie sind der Grund zu deren Figuren. Sie sind Verkettungen, die sich Ketten von Fäden verdanken. Die Motive treten paarweise auf. Sie sind jeweils auf den Kopf gestellt. Dadurch ergibt sich neben der Wahrnehmung der Verkettung, die zu einem Ornament führt, noch die Wahrnehmung einer Spiegelung, einer Organisation, die invers ein fast identisches Motiv zeigt. Sie lässt uns abermals über die Abweichung, die kleinen Unterschiede, das Dazwischen nachdenken.
Das eine Sujet, in schwarz gehalten, zeigt Angela Merkel. Die deutsche Kanzlerin hat ihre beiden Arme auf einen Tisch gestützt. Der Kopf sitzt tief zwischen den Schultern, sie beugt sich nach vor, die Arme dienen wie feste Säulen. Gegenüber sitzt Donald Trump, der seine Arme verschränkt hält. Seine Haltung ist widerborstig, er beharrt auf Selbstbestimmung. Als Zeuge erscheint in der Mitte der japanische Premier Shinzo Abe. Dahinter lugen die Köpfe von Mitarbeitern hervor. Wir sehen das Treffen der Staatschefs beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Das andere Motiv, das Marbod Fritsch weiß hinterlegt, zeigt eine größere, dichtere Gruppe. Es stammt vom selben Treffen, ja nahezu vom selben Moment. Diesmal ist Merkel nicht so einfach auszumachen. Theresa May ist angeschnitten, links vor ihr steht der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau, und rechts, im Profilschnitt wie Napoleon, Emmanuel Macron. In diesem Bild neigt sich Trump ein wenig vor und signalisiert Entgegenkommen. Es ist dieses Motiv, das er auf Twitter veröffentlicht. Es sind zwei Interpretationen eines Geschehens. Sie belegen, wie Bilder eine Realität schaffen, und diese ersetzen. Zugleich sind es Bilder von Beziehungen, also von Verhältnissen zwischen Menschen, nichts anderes also ihr Dazwischen.
Wenn das Reale zwischen den Dingen liegt, dann liegt es in den Beziehungen, in den Deutungen, in den (psychologischen und politischen) Brüchen. Vielleicht liegt es aber auch im Schnitt, im Ausschneiden des richtigen Moments. Hinter Trump steht im zweiten Sujet eine Fernsehkamera. Sie filmt eigenartigerweise nicht die Staatschefs, sondern uns als Betrachter*innen. Und sie macht deutlich, dass es die Medien sind, vor allem die filmischen, die sich zwischen die Dinge schieben. Sie sind das eigentliche Reale, von dem Godard sprach und Fritsch facettenreich einwebt. Es sind die Medien, die Bilder und die Sprache, die sie liefern, nicht zuletzt bekanntlich auch die “Threads”, also die Fäden in einem Netzwerk, die für uns zum Wirklichen werden.
Thomas D. Trummer, Bregenz 3. Jänner 2019