Der stumme Gesang der befreiten Schranke / Wolfgang Hermann

Marbod Fritsch gestaltet

Wolfgang Hermann

Der überdimensionale Umriss eines Menschen auf einer Wiese, gesehen von einer nahe gelegenen Felskante. Der Umriss ist tatortgerecht nach Polizeiart gezeichnet. Vom Felsen gesehen zeigt der Menschenumriss Normalmaß. Nur die Häuser sind spielzeugklein. Es ist wie bei Gullivers Reisen. Möglicherweise ist dieser Mensch vom Himmel gefallen. Ein Mensch groß wie ein Haus? Als Kind sieht man ihn mühelos, den hausgroßen Menschen. Der Blick auf den hausgroßen Menschen verändert die Welt um uns. Wir sehen Spielzeughäuser. Von der Felskante gesehen verändert der große Menschenumriss die kleine Stadt. Es ist eine nicht ungefährliche Felskante, ein Ort für Panoramaschauer ebenso wie für Lebensmüde. Wer den übergroßen abwesenden Menschen auf den Rasen gezeichnet hat, der verändert unser Panoramabild, er stört unsere lebensmüde Aussicht. Er verschiebt die Welt, er schiebt den Vorhang beiseite. Einen Augenblick lang, in dem der Mann vom Himmel fällt. Vorbei an uns von der Felskante Schauenden. Wir sehen ratlos Strichmenschen unter unserem Felsen, die die Umrisse des Riesen abschreiten. Sie fragen sich, ob dieser Mann vom Himmel fiel. Möglicherweise ist Gulliver noch einmal gestrandet. Sie sehen sich um. Lugt irgendwo der Kopf des Riesen über ein Hausdach? Keiner denkt mehr daran vom Felsen zu springen,  alle Blicke sind mit dem Rätsel des vom Himmel gefallenen und verschwundenen Menschen beschäftigt.

Der Park ist die beruhigte Zone, der zur Ruhe gekommene Rasen. Doch eine Scheibe Gras dreht sich, ein Rasenkreisel, der den Park beschleunigt. Wer sich auf der Rasendrehscheibe befindet, der sieht den sich drehenden Park, was gegen die Normalität verstößt. Der Park bleibt für gewöhnlich ruhig und unbewegt. Dafür wurde er angelegt, als Ruhezone, als Augenschmaus, als Nervenberuhigungsmittel. Der Park ist der Ort des Rückzugs für die, denen die Stadt zu schnell wird. Der Park ist Atemzone, Stilleinsel im Herz der Stadt. Hier aber zeigt der Park eine kreisrunde Drehscheibe, eine Spielscheibe, die daran erinnert, daß der Park einmal ein Ort des Spiels war. Das Drehscheibenspiel heißt: Ich bin das Zentrum des Universums. Das gilt solange, als ich auf der sich drehenden Grasscheibe bleibe. Der Park dreht sich um mich herum. Die Welt, die mir jeden Augenblick zeigt, daß ich nicht ihr Zentrum bin, fügt sich eine Rasendrehung lang meinem Blick.

Die Schranke steht  ziemlich einsam da draußen im Wasser der Bucht. Das Wasser umspielt, spiegelt sie. Spaziergänger diskutieren, zeigen einander die Schranke, die an einen Bahnübergang, eine Parkplatzzufahrt, ein Industriegelände gehört. Die Schranke bewegt Spaziergänger hin und her, sie bewegt Worte, Rätselraten, Empörung. Eine Schranke ins Wasser stellen, das ist wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch. Die Schranke könnte Verse im Mondlicht rezitieren, sie könnte den Wolfsgesang heulen, wenn sich die Nacht aufs Wasser legt. Sie hätte allen Grund in der Dunkelheit zu singen, zu dichten und zu jaulen, denn das schwarze Wasser macht selbst einer Schranke Angst.  Aber noch traut sie sich nicht. Tagsüber zerbrechen sich die Leute am Ufer den Kopf, halten die Schranke für einen Wasserunfall. Sie fühlt sich geschmeichelt. Sie gewöhnt sich daran, daß sie im Mittelpunkt steht. Endlich darf sie zeigen, daß sie mehr ist als nur ein Raumteiler. Sie ist nicht nur Grenzmarkierung und Verbotszone. Möglicherweise hat die Schranke schon lange unter ihrem Zweckdasein gelitten. Daß sie nichts weiter sein soll als Mahnerin, Verbieterin und Bewacherin hat sie geprägt. Insofern hat sie Ähnlichkeit mit den Lehrern. Doch nun, im Wasser, ist sie frei. Sie darf endlich funktionslos sein. Sie darf nachts den Mond anheulen und einen Haiku der Stille dichten. Ans schwarze Wasser hat sie sich nach einer Nacht gewöhnt. Sie freut sich auf den ersten Spaziergänger. Während sein Pudel sich erleichtert, bellt der Mann zur poetischen Schranke hinaus. Ob er es will oder nicht, die Schranke kommt endlich zu sich. Marbod Fritsch hat die Schranke ein für alle mal befreit.